Nach dem Rückzug des Westens aus Afghanistan und der Machtübernahme durch die Taliban war für viele Menschen im Westen klar: Alle Hilfsmaßnahmen müssen eingestellt werden, dieses System darf man nicht unterstützen. Dabei sind die Menschen in Afghanistan auf Hilfe angewiesen. Projektmanager Andreas Dürr erklärt, warum sich humedica jetzt erst recht in dem zerfallenen Land engagiert.
humedica: Letztes Jahr gingen die Bilder der Machtübernahme der Taliban durch die Medien. Andreas, Du warst wenige Wochen zuvor in Afghanistan. Wie hat sich die Lage seitdem verändert?
Andreas Dürr: Die Straßen sind mittlerweile voll mit Kindern, die von ihren Eltern zum Betteln geschickt werden. Waren es früher ein oder zwei Kinder, so sind es heute zehn oder 20 – Tendenz steigend. Die Kinder können nicht zur Schule gehen, weil sie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen. Dabei bringt auch Betteln nicht wirklich etwas ein, denn die Menschen haben nichts abzugeben. Es gibt zwar alles zu kaufen, aber niemand kann es sich mehr leisten – es sei denn man verkauft sein Hab und Gut oder spart in anderen Bereichen – zum Beispiel an der eigenen Gesundheit. Und so leiden viele Hunger und werden krank.
Laut UN-Berichten hatten Ende letzten Jahres nur noch fünf Prozent der afghanischen Bevölkerung ausreichend Nahrung. Am schlimmsten trifft das den Teil der Bevölkerung, der durch die vergangenen Konflikte vertrieben wurde und nun unter prekären Bedingungen in den Dörfern und Slums um die großen Städte herum lebt. Sie stehen jetzt vor dem Nichts: Kein Einkommen, keine Nahrung, kein Feuerholz im Winter. Sie werden krank und finden nirgendwo Hilfe.

Was tut humedica gegen diese dramatischen Zustände?
Wir verteilen Lebensmittel, Decken und manchmal auch Bargeld an besonders bedürftige Familien. Außerdem wollen wir speziell den Binnenvertriebenen Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglichen. Die könnten sie sich sonst nicht leisten. Wir finanzieren beispielsweise zusätzliches Personal und die Anschaffung von medizinischen Geräten in zwei Tageskliniken. Außerdem übernehmen wir in geprüften Härtefällen Behandlungskosten. In einer der Kliniken müssen die Patienten im Winter in den engen Fluren kauern und hundert Meter zur nächsten Toilette außerhalb der Klinik gehen. Gerade für Frauen ist das eine Zumutung. Wir finanzieren deshalb die Umbaumaßnahmen.
Nachhaltigkeit ist uns sehr wichtig. Das Wissen muss im Land bleiben. Wir fördern deshalb Fortbildungen für das Klinikpersonal, aber auch die Aufklärung der Bevölkerung zu gängigen Krankheiten. Einer unserer Partner publiziert in Kooperation mit afghanischen Universitätsprofessoren aktuelle medizinische Handbücher in den Landessprachen Paschto und Farsi.
Wird eine christlich geprägte Hilfsorganisation wie humedica von den Taliban in ihrer Arbeit beeinträchtigt?
Bisher nicht. Wir waren vor der Machtübernahme äußerst vorsichtig und haben nirgendwo unser Logo gezeigt, um unsere Partner oder Begünstigte nicht in Gefahr zu bringen. Mittlerweile tun wir das aber ziemlich offen. Die Taliban sind wie alle Afghanen dringend auf internationale Hilfe angewiesen. Die meisten internationalen Hilfsorganisationen sind zumindest nicht muslimisch geprägt und gelten für die Taliban daher als christlich. In der Vergangenheit haben andere Organisationen und vor allem lokale Mitarbeiter deshalb immer wieder Probleme bekommen, manche mussten nun das Land verlassen.
humedica steht glücklicherweise auf keiner schwarzen Liste. Wir bauen auf ein langjähriges Netzwerk und vertrauensvolle Partner und haben einen einheimischen Koordinator. Er und unsere Partner pflegen zu den Taliban ein funktionierendes Arbeitsverhältnis, ohne sich anzubiedern. Wir setzen dabei auf größtmögliche Transparenz: Hilfe soll bei den Bedürftigen ankommen, christliche Mission schließen wir ausdrücklich aus, denn es widerspricht den Richtlinien des Internationalen Roten Kreuzes, denen wir uns verpflichten.
Ist Unterstützung der Menschen in Afghanistan nicht auch gleichzeitig eine Unterstützung des herrschenden Regimes?
Nein. Die Hilfe kommt direkt den Bedürftigen zugute, es fließen keine Gelder an staatliche Institutionen. Als humanitäre Organisation sind wir zu Neutralität verpflichtet, wir helfen Menschen in Not unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit. Freilich stützen wir mit unserer Hilfe zu einem gewissen Grad das Gesundheitssystem, das in der Verantwortung des Regimes liegen sollte. Aktuell geht es aber um akute Hilfe, um Menschen vor schlimmer Krankheit oder Tod zu bewahren. Wenn wir eine humanitäre Katastrophe verhindern wollen, müssen wir hier eingreifen.