Überleben ist das Ziel: Eine Fotoreportage aus dem Libanon

Autor: Hartmut Schotte

Früher galt der Libanon als „Schweiz des Nahen Ostens“ – wegen seiner wirtschaftlichen Stabilität. Doch das ist lange her. Heute befindet sich das Land im freien Fall. Es gibt nur wenige Stunden Strom am Tag, selbst für die Mittelschicht ist das Leben unerschwinglich geworden. Wie ist es dann für diejenigen, die vor der Krise schon arm waren? Oder diejenigen, die vor dem Krieg im benachbarten Syrien geflohen sind? humedica- Einsatzkraft Hartmut Schotte hat den Libanon und die humedica-Projekte mit dem Fotoapparat besucht.

Wir sind in Zahlé in der Bekaa-Ebene, der wichtigsten landwirtschaftlichen Region im Libanon. Seitdem im Nachbarland Syrien der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, wird auf einigen der Felder aber kein Obst oder Gemüse mehr angebaut. Stattdessen sind dort Zeltstädte entstanden, die Flüchtlinge beherbergen. Weitgehend unreguliert haben findige Grundbesitzer die Gelegenheit genutzt, ihre landwirtschaftlichen Flächen als Wohnraum zu vermieten.

Gemessen an seiner Einwohnerzahl hat der Libanon weltweit die meisten Menschen aufgenommen. Auf rund sieben Millionen Libanesen kommen 850.000 registrierte Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die genaue Zahl weiß niemand. Zwei bis drei Millionen könnten es sein, erzählt man mir vor Ort. Viele leben seit Jahren in den notdürftigen Unterkünften. Dicht an dicht stehen die grob zusammengezimmerten Zeltbauten bedeckt mit Planen vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die mit alten Autoreifen beschwert sind. Einmal im Jahr erhält jede Familie eine neue Plane. Meist wird sie weiterverkauft, wenn die alte noch dicht ist.

Foto: Hartmut Schotte

In den Zelten ist es dunkel. Viele haben keine Fenster, und auch Strom ist nur sporadisch verfügbar. Ein wenig Tageslicht dringt durch die offene Tür in das improvisierte Sprechzimmer, das die Ärzte und Mitarbeiter von humedica heute bezogen haben. Einige mitgebrachte LED-Taschenlampen erhellen die Behandlungsplätze gerade genug zum Arbeiten. Normalerweise ist hier das Wohnzimmer einer Familie, heute ist es eine Arztpraxis.

Die Patienten haben sich vorher angemeldet, alles läuft ruhig und geordnet ab. Man kennt sich. Das mobile Ärzteteam von humedica besucht die Camps in der Region in regelmäßigen Abständen und bietet den Bewohnern eine grundlegende hausärztliche Versorgung. Leichte Infekte, Hautausschläge, kleinere Verletzungen – nichts schwerwiegendes, worüber man sich bei uns groß Gedanken machen würde. Aber für die Menschen hier gibt es oft keine andere Möglichkeit, eine Behandlung zu erhalten. Allein schon die Kosten, um zur nächsten Arztpraxis zu kommen, sind für viele schon zu hoch, von den Preisen für Behandlung und Medizin ganz zu schweigen. „humedica ist uns hier eine große Hilfe“, erzählt mir Jomas, ein Vater von sechs Kindern, der früher in Syrien sein eigenes Land als Bauer bewirtschaftet hat. „Als meine vierjährige Tochter krank war und hohes Fieber hatte, hätte ich mir eine Behandlung nicht leisten können. Die Ärzte von humedica haben sie kostenlos untersucht und ihr Medikamente gegeben. Sie ist wieder gesund geworden.“

Jomas ist Vater von sechs KIndern. Ohne die Unterstützung durch humedica könnte er die medizinische Versorgung seiner KInder nicht bezahlen. Foto: Hartmut Schotte

Mit dem Gedanken, wie ich mich wohl fühlen würde, wenn ich meinem kranken Kind nicht helfen könnte, trete ich zurück ins Tageslicht und laufe die unbefestigten Wege zwischen den Behausungen entlang. Ich habe Glück, die letzten Tage hat es wenig geregnet. Jetzt im Winter steht das Wasser gerne mal in der Siedlung und verwandelt die Wege in Schlammbecken. Kanalisation gibt es hier nicht. Während ich im Schein der Nachmittagssonne an den mit Holz- oder Blechplatten abgedeckten Gruben vorbeilaufe, in die Abwasser und Exkremente entsorgt werden, bin ich sehr dankbar über das gute Wetter.

Mit meiner Kamera errege ich viel Aufmerksamkeit. Gerade für die vielen Kinder ist Besuch eine willkommene Abwechslung in der Monotonie des Camp-Alltags. Ich spreche mit Khajfa, einer Mutter von drei Kindern. Das älteste von ihnen ist neun Jahre alt, alle wurden im Flüchtlingscamp geboren. „Hier gibt es absolut nichts zu tun“, erzählt sie mir. „Es gibt keine Schule. Meine Kinder bekommen hier keinerlei Ausbildung. Das macht mich sehr traurig.“ Khajfa ist mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann vor 12 Jahren aus Aleppo geflohen, als die kriegerischen Auseinandersetzungen sie unmittelbar bedrohten. Die Grenzen zum Nachbarland Libanon waren offen, so dass sie offiziell einreisen konnten und nicht auf Schleuser oder ähnliches angewiesen waren.

Gerade für die Kinder ist er eine willkommene Abwechslung im tristen Camp-Alltag. Sie haben hier keine Perspektive, erzählt Khajfa. Foto: Hartmut Schotte

Ihre Familie zu versorgen, sei die größte Herausforderung, sagt sie. Sie bekomme ein wenig finanzielle Unterstützung vom UNHCR, das reiche für das Nötigste. Infolge der Wirtschaftskrise sind aber die Preise auch für Grundnahrungsmittel stark gestiegen. Hin und wieder könne sie Arbeit finden, aber das sei auch wegen der Kinder sehr schwierig. Gerade jetzt im Winter könne sie die nicht alleine zu Hause lassen.

Ich frage Khajfa nach ihren Plänen oder Hoffnungen für die Zukunft. Sie habe keine, antwortet sie. „Ich hoffe, irgendwie dieses Land verlassen zu können und woanders hinzugehen, wo meine Kinder eine Chance auf Bildung und ein besseres Leben haben“, führt sie fort. Wie genau das funktionieren könnte, weiß sie auch nicht. Überleben ist das Ziel, von einem Tag auf den nächsten.

Diese Perspektivlosigkeit begegnet mir bei vielen Menschen hier. Die Situation in Syrien ist nach wie vor instabil, aber die meisten hätten ohnehin nichts, zu dem sie zurückkehren könnten. Ihre Häuser oder Wohnungen sind zerstört oder unbewohnbar, viele mussten einen Großteil ihrer Habseligkeiten zurücklassen, Arbeit zu finden sei fast unmöglich. Hier im Libanon ist die Not zwar groß, aber wenigstens sei es sicher und man habe ein Dach über dem Kopf.

Allein im Libanon leben derzeit rund zwei Millionen Syrer. Bei etwa vier Millionen Libanesen bedeutet dies, dass nun jeder Dritte hier einen Fluchthintergrund hat. humedica ist seit Beginn dieser humanitären Krise im Libanon aktiv. Erfahren Sie mehr über unsere Hilfe vor Ort.

Die Frage, wann und ob überhaupt die Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren, stellt man sich auch andernorts. Infolge der Wirtschaftskrise, ausgelöst zunächst durch die COVID-19-Pandemie und dann verstärkt durch den Krieg in der Ukraine, sind viele Libanesen in eine finanziell prekäre Situation geraten. Die Banken im Land zahlen die Ersparnisse der Leute schon lange nicht mehr aus, der Wert der Landeswährung ist abgestürzt. Der offizielle Wechselkurs des Libanesischen Pfunds (LBP) zum US-Dollar beträgt nur noch rund ein Dreißigstel des Straßenwerts. Längst ist eine Schatten-Ökonomie entstanden, die Preise der Waren orientieren sich am Dollar und haben sich den neuen Realitäten angepasst. Die Löhne vielerorts aber sind gleichgeblieben. Ganze Vermögen haben sich durch die Entwertung in Luft aufgelöst, so dass auch vormals Privilegierte jetzt auf Unterstützung angewiesen sind. Dazu kommt, dass die Einheimischen nun mit der großen Zahl an Zugezogenen um die zunehmend knappen Arbeitsplätze konkurrieren müssen.

Eine Situation, die Ressentiments einen guten Nährboden liefert. Unterstützung komme nur den syrischen Flüchtlingen zugute, so kursiert es unter den Leuten. Die Libanesen, die doch so viel Gastfreundschaft bewiesen hätten, zahlten nun den Preis dafür, beschreibt mir George, ein Priester in der nahegelegenen Stadt Mekse, die Stimmung in seiner Gemeinde. Viele würden sich wünschen, dass die Flüchtlinge zurück gingen, es gäbe doch auch sichere Gebiete in Syrien. Nicht nur als Christ sondern auch als Mensch, sagt er, sei es natürlich geboten, Nothilfe und Unterstützung zu leisten. Aber man müsse eben alle im Land sehen, die Hilfe brauchen.

Genau auf dieses Stimmungsbild hat humedica auch reagiert und unterstützt hier in Mekse ein öffentliches Gesundheitszentrum, das seine Dienste explizit für Libanesen und Syrer anbietet. Ein weiteres liegt ein paar Kilometer weiter, ist aber just in dieser Woche geschlossen, da neue Räumlichkeiten bezogen werden. Diese Unterstützung macht es möglich, die Konsultationen hier für nur einen minimalen Kostenbeitrag von 10.000 LBP anzubieten, umgerechnet etwa 25 Cent. George hat seine Frau hierher begleitet und ist voll des Lobes. Das neugebaute Gebäude sei sehr gut ausgestattet und die Mitarbeiter hoch qualifiziert. Mir selbst kommt es vor, als wäre ich in eine andere Welt gekommen. Alles ist neu, hell, die medizinischen Geräte sind modern und ermöglichen auch speziellere Untersuchungen – eigentlich nicht von einer Praxis in Deutschland zu unterscheiden. Das ist alles andere als Standard hier im Libanon und nur möglich, weil humedica den Bau finanziert hat und den laufenden Betrieb dauerhaft unterstützt.

Auch das medizinische Versorgungsangebot ist breiter als üblich. Neben hausärztlichen Leistungen sind hier zu bestimmten Zeiten auch Fachärzte vor Ort, heute Vormittag zum Beispiel sind ein Kardiologe und ein Kinderarzt da. Ich wer17 Vor Ortde von Ärzten wie Patienten freundlich empfangen und darf auch bei der ein oder anderen Untersuchung meine Fotos machen. Gerade mir als Gast gegenüber sind alle ausgesprochen zuvorkommend. Trotz der schwierigen Zeiten sehe ich auch viel Lachen bei den Leuten, die meisten sind sehr offen. Ich frage mich, wie wir wohl zuhause reagieren würden, wenn da plötzlich ein wildfremder Mann mit Kamera beim Arzt steht und fragt, ob er bei der Behandlung Fotos machen kann.

Privatärztliche Konsultationen sind für die allermeisten kaum noch bezahlbar, kosten teils das 80-fache wie hier in Mekse. Mit ausländischen Spenden subventionierte Gesundheitszentren wie hier dienen nun auch als Anlaufstelle für viele Libanesen, die sich noch vor kurzem zur gutverdienenden Mittelschicht zählen konnten. Nun plötzlich auf Hilfe angewiesen zu sein, ist für viele sicherlich gewöhnungsbedürftig. Eine funktionierende staatliche Absicherung gibt es hier nicht.

Für Samar ist das Gesundheitszentrum in Mekse ein Glücksfall. Foto: Hartmut Schotte

Vor der Tür unterhalte ich mich noch mit Samar, die gerade Medikamente abgeholt hat. Die 52-jährige wohnt ganz in der Nähe. Dass sie zu Fuß hierherlaufen kann, sei einer der großen Vorteile des Zentrums, sagt sie. Neben dem günstigen Preis natürlich. Ihr Ehemann und zwei ihrer fünf Kinder haben zwar einen Job, trotzdem sei die Finanzierung auch der alltäglichen Dinge schwierig. „Vor der Krise haben wir uns nie Gedanken um Geld oder Gesundheit machen müssen, aber jetzt sparen wir, wo wir können.“ Auf die Flüchtlinge angesprochen bestätigt sie mir ehrlich, was auch George schon erzählt hat. Viele Libanesen fühlen sich allein gelassen in der Krise. Wie gut es gelingt, in der nächsten Zeit Hilfe und Unterstützung für alle zu leisten, die sie benötigen, wird sicherlich maßgeblich dafür sein, wie gut das Zusammenleben der Menschen hier im Libanon in Zukunft funktioniert.

Mich persönlich lässt auch dieser Einsatz wieder mit unterschiedlichen Gefühlen zurück. Ich kehre heim in ein sicheres und warmes Zuhause, nur wenige Flugstunden sind dafür nötig. Unsere Probleme wirken im Vergleich so klein und dennoch werden sie auch mir im Alltag wieder sehr groß und wichtig vorkommen. Die Erfahrungen der letzten Tage werden mir helfen, die Perspektive wieder zurecht zu rücken und vor allem erstmal dankbar zu sein. Dankbar für das, was ich habe, für das Leben, das ich führe und auch dafür, dass ich die Möglichkeit habe, einen Beitrag zur Hilfe anderer zu leisten.