Eindrücke des medizinischen Teams vom Erdbeben-Einsatz in der Türkei

Nach den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien Anfang Februar, bei denen zigtausende Menschen starben, entsandte humedica ein medizinisches Team in die Region, welches in einem provisorischen Zeltlager nördlich von Gaziantep die Menschen behandelte, die alles verloren haben – ihr Zuhause, Angehörige, ihre Existenz. Sieben Einsatzkräfte, fünf Ärztinnen und Ärzte sowie zwei Koordinatorinnen flogen mit dem Flugzeug ins Katastrophengebiet, zwei weitere, Caro und Christian, brachten das Zelt sowie dringend benötigte Hilfsgüter per Auto in die Katastrophenregion. Was das Team bei dem Einsatz erlebte, erzählen die Einsatzkräfte hier:

Michael (Facharzt für Allgemeinmedizin; Notarzt)

„Vor ein paar Tagen kam eine Mutter mit ihrem vier Wochen alten Säugling, der in einem schlechten Zustand war, beinahe apathisch. Die Mutter konnte nach dem Erdbeben nicht mehr stillen – das passiert häufig nach einem psychischen Trauma. In ihrer Verzweiflung hatte sie das Kind mit Wasser und Zucker ernährt. Das kann schnell zu einer kritischen Verschlechterung führen. Wir haben noch am gleichen Tag an das Alter adaptierte Nahrung besorgt, was im Erdbebengebiet nicht einfach war, und der Mutter die Pakete gegeben. Nicht nur in solchen Fällen agieren wir über unsere basismedizinische Hilfe hinaus: Während der Behandlungen stößt man schnell auf die emotionale Verletzung, welche die Betroffenen erleben mussten – es bricht aus ihnen heraus. Wir sprachen mit einem Patienten über seine Verletzung am Fuß und fragten, wie er im Zelt zurechtkäme – unmittelbar erzählte er, dass er 18 Stunden unter Trümmern gelegen habe. Ein anderer Mann beschrieb, wie er zwei seiner Enkel tot aus den Trümmern ziehen musste. Es ist wichtig, dass wir uns, neben der regulären Behandlung, Zeit für solche Gespräche nehmen, die Patentinnen oder Patienten in den Arm nehmen und trösten.“

Manuela (Internistin)

„Einen Tag nach ihrer Behandlung kam eine Patientin mit Geschenken vorbei, darunter zwei kunstvoll mit Spitze verzierte Handtücher, ein Waschlappen in Erdbeerform und ein wunderschönes Tuch mit selbstgemachten, bunten Häkeleien. Ich trage es seither jeden Tag. Es kommt immer wieder zu solch besonderen Begegnungen: In einem ruhigen Moment kam die Großmutter einer Familie auf mich zu. Sie schlang ihre Hände um meinen Hals, weinte, und wir hielten uns mehrere Minuten. Da kamen auch mir die Tränen.

Die Menschen im Camp können tagelang nicht duschen, fast jeden Tag brechen die sanitären Anlagen zusammen und es braucht dann eine Weile, bis diese wieder repariert sind. Deswegen haben wir Angst, dass Infektionskrankheiten – wie Magen-Darm-Infekte, Cholera oder Typhus – ausbrechen. Die Krätze geht schon rum. In den Zelten, in denen die Menschen leben, gibt es zwar kleine Öfen, aber bei der Eiseskälte wird kaum gelüftet – es ist stickig und voller verbrauchter Luft. Die Gefahr einer Kohlenmonoxidvergiftung besteht. Dem sind sich viele Leute nicht bewusst. Um aufzuklären, laufen wir durch die Camps. Zudem besuche ich täglich einen schwer krebskranken 47-Jährigen, der mit seiner Familie in einem solchen Zelt ausharren muss. Wir wollen es ihm möglichst angenehm machen – denn wir nehmen an, dass er aufgrund seiner schweren Erkrankung bald sterben wird.“

humedica-Koordinatorin Nora im Gespräch mit Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser, die die Gesundheitsstation von humedica besucht haben.

Nora (Koordinatorin; Lehrerin)

„Jeder Katastropheneinsatz bringt Herausforderungen mit sich: Diesmal fing es damit an, unsere 300 Kilo Übergepäck durch den Zoll zu bekommen. Inhalt davon war das Medikit – eine Ausstattung, um 3000 Patientinnen und Patienten zu behandeln. Außerdem ist es besonders wichtig, die Sicherheit des Teams zu gewährleisten: Schlafen wir in einer Unterkunft oder in Zelten? Was ist sicherer vor Nachbeben? Wir entschieden uns für ein Hotel, mussten dort aber besonders aller Notfallvorkehrungen bewusst sein und den Notausgang zugänglich machen. Die ersten Tage gab es nur kaltes Wasser und keine Heizung. Sogar mit warmen Klamotten im Schlafsack und unter Decken froren wir, da die Heizung nicht funktionierte. Vor unserer Ankunft hatte das humedica-Assessment-Team bereits Vorabsprachen getroffen, sodass wir einen Platz bekommen haben, um unsere Behandlungszelte aufzustellen. Allerdings: Das Behandlungszelt war noch nicht angekommen. Zufälligerweise, wie es so ist, hatte eine andere Organisation einen Behandlungscontainer, aber deren Ärztinnen und Ärzte waren noch nicht vor Ort. Somit konnten wir uns super ergänzen, bis ein weiteres Team von humedica das Zelt brachte.“

Logistiker Christian beim Aufbau des Behandlungszeltes, welche mit einem Kleinbus in die Türkei gebracht wurde.

Christian (Logistiker)

„Nach circa 42 Stunden Fahrtzeit – samt Autopanne, Schneesturm und einer langwierigen Nacht beim türkischen Zoll – sind Carolin und ich mit Hilfsgütern im Erdbebengebiet angekommen. Im Transporter hatten wir unter anderem das medizinische Einsatzzelt. Kaum aus dem Auto ausgestiegen, packten alle lokalen Ortskräfte mit an – und trotz Sprachbarriere stand das Zelt nach einer kurzen Zeit. Obwohl wir uns zunächst fremd waren, entwickelte sich ein beeindruckender Teamgeist. Diese besonderen Begegnungen werden mir noch lange in Erinnerung bleiben.“

Annerose, im Hauptberuf Kinderkrankenschwester, ist im Einsatz für die Apotheke zuständig.

Annerose (Kinderkrankenschwester)

„Ich bin für die Apotheke von humedica zuständig. Die Patentinnen und Patienten kommen nach der Behandlung mit einem Rezept zu mir und ich dosiere ihre Medikamente. Ein Dolmetscher hilft mir, ihnen mitzuteilen, wie sie diese einnehmen müssen. Wir haben einen ganz besonderen Übersetzer: Einen 16-Jährigen, der selbst vom Erdbeben betroffen war. Tagelang ist er gehumpelt – unser Arzt Michael hat ihm dann einen großen Glassplitter aus dem Fuß gezogen. Seither unterstützt er uns – und er ist eine solche Bereicherung! Zusammen mit ihm habe ich eine Liste mit den wichtigsten türkischen Wörtern erstellt: ‚Hallo! Eins, zwei, drei, vier. Früh, mittags, abends, nachts. Danke. Bitte.‘ Mein Türkisch verbessert sich stetig.

Es kommt immer wieder zu besonderen Begegnung: Gestern kam ein Junge mit Kopfschmerzen – es hat sich herausgestellt, dass er seine Brille verloren hat – und das bei einer Dioptrien von -4. Er sieht kaum noch etwas. Ich hatte selbst mal eine solche Situation, das ist wirklich schlimm, da du nichts mehr erkennst und quasi aufgeschmissen bist. Deine Sinne müssen sich furchtbar anstrengen. Daher hatte er extrem gerötete Augen. Aufgrund des Erdbebens haben Optiker leider geschlossen. Wir gaben ihm eine Augensalbe und Schmerztabletten. Aber wir versuchen auch die Ursache zu lösen und geben alles, ihm eine passende Brille zu beschaffen.“

Der Einsatz in der Türkei war der erste von Koordinatorin Theresa.

Theresa (Koordinatorin; Juristin)

„Im Krisengebiet angekommen, mussten schnell Übersetzerinnen und Übersetzer gefunden werden. Auf sie muss sich das Team verlassen können, schließlich geht es um die Gesundheit der Betroffenen. Wir haben unter anderem zwei Sprachlehrerinnen und eine Physik-Studentin für unser Team gewinnen können. Auch sie mussten das Erdbeben miterleben – verloren Freunde und Angehörige. Die Angst eines Nachbebens begleitet sie permanent. Das Elternhaus einer Übersetzerin ist zerstört, tagelang suchte sie nach ihren beiden Katzen. Wir achten darauf, dass die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten zu keiner Retraumatisierung führt. Schließlich sind es grausame Schicksale, von denen uns täglich berichtet wird. Da die Familien hier sehr groß sind, hat nicht selten jemand zwölf oder mehr Familienmitglieder verloren. Täglich gibt es berührende Momente: Bei einem Gang durchs Camp ist mir eine ältere Frau aufgefallen, die vor ihrem Zelt saß. Wir haben uns angeschaut und sind uns in die Arme gefallen. Sie hat geweint und mich gar nicht mehr losgelassen. Dann hat sie für unser Team gebetet.“

Carolin und Christian brachten das Zelt und anderes Equipment mit dem Auto in die Türkei.

Carolin, Logistikerin
„In einer ruhigen Minute hat unsere Ärztin Anna angefangen, die Gesichter der kleinen Patientinnen und Patienten mit Farbe zu bemalen. Die Kinder hatten große Freude – für einen kurzen Moment, so schien es, haben sie ihr Leid vergessen. Dann gibt es wiederum Momente, die den Atem stocken lassen: Ein Junge hatte durch das Erdbeben beide Beine verloren. Er fragte die Psychologin unserer Partnerorganisation, ob seine Beine wieder nachwachsen werden.“

Ablenkung ist wichtig nach einer Katastrophe. Deshalb fand Notärztin Anna Zeit, die Kinder zu schminken.

Anna (Ärztin)

„Ein Patient, 17 Jahre, hatte miterleben müssen, wie seine Mutter unter den Trümmern begraben wurde und starb. Er selbst lag unter dem Schutt, sein Finger eingequetscht. Nach der Rettung musste die Fingerkuppe amputiert werden. Solch bewegende Schicksale begegnen uns jeden Tag: Ich erinnere mich an einem Mann, der vor dem Behandlungszelt saß – zusammengesackt auf einem Stuhl. Durch das Erdbeben hatte er seinen 18-jährigen Sohn verloren. Seine Frau erzählte, dass er seit dem nicht mehr spreche – ein seelischer Zusammenbruch. Unsere Ärztin Hansi, Psychotherapeutin, nahm sich Zeit und redete rund eine Stunde mit ihm. Er hat versprochen, nun regelmäßig zu kommen. Es gibt viele Menschen, die durch das Erdbeben schwer traumatisiert wurden. Das Zusammenleben in den engen Zelten führt zu Spannungen. Eine Frau wurde mit dem Rettungssanitäter zu uns gebracht. Es stellte sich heraus, dass sie einen schrecklichen Streit mit ihrem Mann hatte – seit dem Erdbeben lebt die Familie zu siebt in einem Zelt, geschätzt auf etwa [acht] Quadratmetern. Alle haben wahnsinnige Angst vor einem Nachbeben. Der Streit führte dazu, dass Sie eine Panikattacke mit Brustschmerzen bekam. Sie wollte sich aus dieser Lage befreien, ist nach draußen gerannt und dort zusammengebrochen. Wir hoffen, wir können den Menschen auch eine seelische Stütze sein.“

Hansi ist ärztliche Leiterin des Teams. Sie kümmert sich um körperliche wie seelische Beschwerden gleichermaßen

Hansi (Chirurgin, Psychotherapeutin, Psychoonkologin)

„Zu uns kam ein Mann mit schweren Verbrennungen an den Unterschenkeln. Da er operiert werden muss, haben wir ihn in ein Krankenhaus überwiesen. Aus Angst vor einem Nachbeben während der Narkose hat sich der Patient geweigert, im Krankenhaus zu bleiben. Aufgrund der guten Kooperation mit anderen Organisationen konnten wir ihn in ein professionell ausgestattetes Zeltkrankenhaus einer anderen Organisation verlegen, in dem er nun behandelt wird. Zwischen all dem Leid gibt es auch rührende Momente: Eine junge Frau, schwanger, hatte das Gefühl, dass sich ihr Baby nicht mehr bewegt. Sie war in großer Sorge, dass dem Kind während des Erdbebens etwas passiert sei. Meine Kollegin Anna hat glücklicherweise ihr Ultraschallgerät mitgenommen. Es war sehr emotional für uns alle, als wir gesehen haben, wie das kleine Herz schlägt.“