
Unsichtbare Sklaverei im Libanon
“Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.“, so Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch die Realität vieler ausländischer Dienstmädchen im Nahen Osten sieht gänzlich anders aus. Zusätzlich verschlechtert sich ihre Situation durch Inflation und Wirtschaftskrise zusehends. Die COVID-19-Pandemie stellt Hilfsorganisationen wie humedica und unsere libanesische Partnerorganisation AMEL dabei zusätzlich vor große Herausforderungen.

Im August 2020 erschütterte eine Explosion den Hafen von Beirut, der Hauptstadt des Libanons. Die gewaltige Detonation kostete zahlreiche Menschenleben, verwüstete weite Teile der Stadt und verschlimmerte die Situation, der ohnehin durch eine massive Wirtschaftskrise und die COVID-19 Pandemie geschwächten Bevölkerung zusätzlich. Die Bilder von damals haben wir auch heute noch, rund ein halbes Jahr später, deutlich vor Augen. Doch eine der gefährdetsten Bevölkerungsschichten ist gleichzeitig auch die wohl unbekannteste.
Nach Angaben von Amnesty International leben und arbeiten bis zu 250.000 Hausangestellte ausländischer Herkunft im Libanon. Die Dunkelziffer wird auf etwa das Doppelte geschätzt.
Die Lebenssituation junger Frauen, die zumeist aus Äthiopien nach Beirut reisten, um dort als Hausangestellte in den Familien ihrer libanesischen Arbeitgeber zu leben, verschlechterte sich seit der Explosion und unter den Einflüssen der COVID-Pandemie drastisch. Da das Gesundheitssystem in Beirut jedoch längst an seiner Belastungsgrenze angelangt ist und die Infektionszahlen weiterhin stark ansteigen, droht das dramatische Schicksal der Frauen noch zusätzlich in den Hintergrund zu geraten.
Überstunden und kein Gehalt
Zwanzigstundentage, ausbleibender Lohn, unzureichender Zugang zu Wasser und Nahrung – was für uns unvorstellbar ist, ist für viele Arbeitsmigrantinnen im Libanon schmerzlicher Alltag. Die Frauen, die meist aus Äthiopien, Ghana, Bangladesch oder den Philippinen anreisen, um gegen Bezahlung in libanesischen Haushalten sauber zu machen, Kinder zu betreuen und Essen zu kochen, sind der Situation vor Ort schutzlos aufgeliefert. Gelockt wurden sie mit dem Versprechen, ihr Gehalt in US-Dollar zu erhalten, um dieses dann an ihre Familien in der Heimat schicken zu können. Die Realität vor Ort sieht in vielen Fällen jedoch völlig anders aus. Die Frauen sind, ohne die Risiken zu kennen oder diese abschätzen zu können, in ein System vollständiger Abhängigkeit geraten, aus dem sie ohne die Zustimmung ihres Arbeitgebers nicht mehr herauskommen. Bereits vor Wirtschaftsdepression, Explosion und Lockdown war das Leben vieler zudem geprägt von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt durch ihre Arbeitgeber.
Kafala
Verantwortlich für die Situation der Frauen ist meist das viel kritisierte sogenannte Kafala-System, welches das Arbeitsvisum der Migranten mit dem Namen ihres Arbeitgebers, dem "Kafil", verbindet. Sobald der Hausangestellte libanesischen Boden betritt, gilt der Kafil automatisch als Bürge und als juristisch Verantwortlicher. Fliehen die Frauen oder werden vor die Türe gesetzt, gelten sie in den Augen der Justiz ist als illegale Flüchtlinge. Wer sich mit der Bitte um Hilfe an die Behörden wendet, riskiert eine Gefängnisstrafe oder Schlimmeres.
Krise in der Krise
Pandemie und Wirtschaftskrise führen dazu, dass sich viele Arbeitgeber den Unterhalt ihrer Hausangestellten finanziell nicht mehr leisten können. Nicht selten werden die Frauen dann einfach vor die Tür oder vor ihren jeweiligen Botschaften abgesetzt und campieren dort notdürftig in der Hoffnung auf Hilfe. Da ihnen ihre Papiere in der Regel unmittelbar nach ihrer Einreise abgenommen wurden, befinden sie sich in einer besonders kritischen privaten und rechtlichen Situation, die auch jenseits einer Pandemie unzumutbar ist. Zugang zu dringend benötigten Masken, Schutzausrüstung, medizinischer Hilfe oder gar COVID-Tests, bleibt ihnen ohne gültigen Pass verwehrt. So stellt besonders ihre Identifizierung eine große Hürde dar.
Hunger ist allgegenwärtig, als könnte man ihn anfassen.
Besonders einprägsam für die Menschen, die die humedica-Spenden vor Ort koordinieren und verteilen, ist dabei die Tatsache, dass es den Frauen an den grundlegendsten Dingen mangelt und sie so tagtäglich ums blanke Überleben kämpfen müssen. „Hunger ist allgegenwärtig, als könnte man ihn anfassen. Die Frauen erzählen von Schmerzen, da sie seit Tagen nichts gegessen haben. Unsere direkte Hilfe lindert vordergründig Hunger und versorgt die Frauen mit Hygieneartikeln, vor allem aber hat unser Besuch einen unermesslichen menschlichen Wert. Wir tragen dazu bei, dass diese greifbare Armut und Traurigkeit einer Perspektive und Hoffnung weichen“, berichtet ein AMEL-Mitarbeiter nach einer Verteilungsaktion in Beirut.
Kein Einzelschicksal
Das Martyrium einer Frau blieb einer Helferin besonders prägnant in Erinnerung und steht dabei gleichzeitig für das Schicksal vieler: „Obwohl es draußen kalt war, kam sie in Sommerkleidung zu uns, denn als sie das Haus ihres Arbeitgebers verließ, musste sie alles dort lassen, sogar ihren Pass. Im Zentrum versorgten wir sie mit warmer Kleidung und etwas Frühstück, bevor sie erklärte, was mit ihr passiert war. In dem Haus, in dem sie angestellt war, wurde ihr in den letzten 6 Monaten kein Gehalt mehr gezahlt und sie wurde vom Sohn ihres Arbeitgebers sexuell belästigt. Um nach Beirut zu kommen, hat sie Schulden machen müssen. Nun stehen sie und ihre zwei Kinder vor dem Ruin.“
Perspektiven schaffen und in die Zukunft investieren
Dank der Spenden durch humedica und der Zusammenarbeit mit AMEL, können sich die Frauen offiziell registrieren und für eine Überführung in ihr Heimatland vormerken lassen. Bis zum Zeitpunkt ihrer ersehnten Heimreise stellen wir ihnen zudem schnell und unkompliziert Geld für Miete und Wohnraum sowie für etwaige Gerichtskosten zur Verfügung, statten sie mit Seifen, Handtüchern, Menstruations-Hygiene und Masken aus und ermöglichen den Zugang zu COVID-Aufklärungsmaterialien in ihrer Landessprache, zu Tests und zu medizinischer Versorgung.
Du magst dich entscheiden wegzusehen, aber du kannst nie mehr sagen, dass du es nicht gewusst hättest.
Um das Problem nachhaltig bekämpfen zu können, bedarf es, neben der Reaktion auf die aktuellen Symptome der Arbeitsmigration, aber vor allem einer Ursachenbekämpfung. Die Push & Pull Faktoren, aus deren Grund die Frauen in den Libanon reisten, müssen ausgehebelt, die Frauen selbst gestärkt werden. AMEL engagiert sich daher, neben der von humedica unterstützen Soforthilfe, vor allem darum, die Frauen durch verschiedenste Kurse zu befähigen und ihre Handlungskompetenzen auszubauen. So kehren sie gestärkt und besser ausgebildet in Ihre Heimat zurück.
Ein Anfang ist gemacht – dafür danken wir von humedica Ihnen von Herzen. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Schon kleinere Summen bewirken eine Veränderung und tragen wesentlich dazu bei, den hilfsbedürftigen Frauen zu zeigen, dass wir sie in ihrem Elend nicht vergessen und ihre Würde unantastbar bleibt.
Bitte spenden auch Sie.