
Nothilfe für die Opfer des Erdbebens
Eigentlich ist Katharina Mayer Gründerin und Geschäftsführerin des Start-ups „Kuchentratsch“ in München, wo sie gemeinsam mit ihrem Team eine innovative Backstube ins Leben gerufen hat. Um unsere Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen des Erdbebens in Mexiko zu unterstützen, hat sich die Münchnerin nun allerdings zehn Tage freigeschaufelt und ist mit fünf weiteren ehrenamtlichen Helfern als Koordinatorin in die Katastrophenregion nach Südamerika gereist. Welche Erfahrungen sie bei ihrem ersten Einsatz mit humedica sammelt, verrät sie in ihrem täglich upgedateten Blog.
Tag 13 - Existenz, Dankbarkeit, Bereicherung
„…meine drei Stichpunkte zu meinem ersten Einsatz mit humedica. Gerade sitze ich im Flugzeug, wir fahren auf die Startbahn und der Flieger beschleunigt. Es kribbelt in meinem Bauch als die Lufthansamaschine abhebt. Mit an Bord sind Brigitte, Wolfgang und Heinz. Der Rest unseres Teams fliegt heute Nachmittag.
Jetzt entschleunigt sich mein Puls, mein Atem wird entspannter und mein Kopf freier. Ich habe gar nicht gemerkt, wie die permanente Möglichkeit eines Nachbebens, wie wir es an unserem zweiten Tag erlebt haben, meinen Körper beeinflusst hat. Auch zu wissen, Mexiko jetzt hinter mir zu lassen bewegt mich. Zum einen fühle ich mich schuldig, weil ich zurück in mein stabiles und sicheres Zuhause darf, was vielen Menschen in Mexiko nicht mehr geblieben ist. Zum anderen bin ich voller Glück aufgrund all der tollen Momente, die ich erleben durfte. Zum Glück habe ich mich dazu entschieden, mitzufahren. Spontan, Hals über Kopf und mit ziemlich viel Vollgas. Das bin ich, unter anderem.

Die Dankbarkeit der Menschen vor Ort hat mich unglaublich beeindruckt. Die kleinen, wie die großen Gesten. Eine Umarmung, Händeschütteln, ein Lied der Dorfbewohner vor Ort oder die spontane Einladung einer Mexikanerin auf einen Kaffee am Flughafen. Oder das hilfsbereite Flughafenpersonal, das unseren Notfallkoffer „Oskar“ ohne Probleme durch die Sicherheitsschleuse gebracht hat. Aber auch das Upgrade in die Economy Premium Class. Jetzt sitze ich mit ausgestreckten Beinen, Feuchttüchern für die Hände und einer Menükarte im Flieger. Nachdem ich beim Hinflug so sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war, schalte ich jetzt ab und mache einen Filmmarathon.
Dahoam is dahoam
4:50 am Morgen. Wir sind bereit für die Landung. Beim Hinflug waren wir die letzte Maschine, die München verlassen hat, heute sind wir die Ersten, die landen. Über neun Stunden Flug und endlich geht es zur Passkontrolle und wir können unsere Rucksäcke vom Gepäckband zerren.
Nachdem ich damals, vor zwei Jahren, die Ausbildung zur Koordinatorin bei humedica absolviert hatte, habe ich mir natürlich Gedanken über einen Einsatz gemacht. Schon damals hatte ich mit meinen Eltern besprochen, dass ich sie vor einem Einsatz nochmal kurz sehen und danach auch wieder abgeholt werden möchte. „Danke Mama und Papa, dass Ihr euch um vier Uhr aus dem Bette gequält habt und an den Flughafen gefahren seid“.
Kleinigkeiten bestimmen das Leben. Von seinen Eltern, dem Partner oder Freunden nach so einem Trip abgeholt zu werden, ist sehr wertvoll. Die Sicherheit, nach Hause kommen zu können ist für jeden Menschen wichtig. Vor allem nach dieser Zeit in Mexiko bin ich einmal mehr dankbar für das tolle Umfeld in dem ich leben darf. Im Vergleich zu Mexiko und der vielen Erbebenopfer lebe ich im Paradies. Es ist purer Luxus überhaupt darüber nachdenken zu können, anderen zu helfen.
Hier in Deutschland sind all unsere Grundbedürfnisse befriedigt. Wann immer möglich, sollten wir diesen Umstand unserer Gesellschaft zurückgeben. Nicht nur an sich selbst denken. Das ist pure Verschwendung und völlig sinnloses Zeitinvestment. Auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Sie sind von großer Bedeutung. Sich einmal mit Menschen austauschen, die nicht hip und angesagt sind, sich bei lokalen Initiativen engagieren, nicht immer über die Bürokratie meckern, mit einem Lächeln durch die Straßen laufen, wildfremden Menschen ein Hallo sagen und einfach mal nicht nur nach Geld streben.
Lasst uns alle einmal durchatmen und uns über das freuen, was wir haben. Uns geht es Bestens und wir können noch viel bewegen. Vor allem, wenn wir einmal nicht nur an uns denken. Es war mir eine Freude, in Mexiko zu sein und ich freue mich schon auf meinen nächsten Einsatz mit humedica. Alles Liebe und ein Lächeln, Katharina.“
Tag 12 - Viva la Mexiko
„Nach einer Woche in Mexiko hatte ich mich an die gröbsten kulturellen Unterschiede gewöhnt. Ich erinnere mich noch an meine Zeit in Argentinien, wo ich über manche Gewohnheiten nur den Kopf schütteln konnte und andere gerne angenommen habe. Trotzdem gehört immer wieder Empathie und Selbstdisziplin dazu, um in die andere Kultur eintauchen zu können. Ein Muss, wenn man hier arbeitet und auch sonst Standard bei humedica.
Unser Ansprechpartner vor Ort heißt Abner. Er arbeitet für die Organisation Prosigue. Schwerpunkt deren Arbeit liegt bei Straßenkindern. Abner ist knapp 30 Jahre alt, studiert einen BWL-Master in Europa und macht gerade ein Praktikum in seinem Heimatland. Ein sehr schlauer Kopf, der schnell mitdenkt und tatkräftig anpackt. Er fährt auch das Auto, in dem ich mit einem Teil des Teams, nämlich mit Wolfgang, Heiner, Brigitte, Michael und Nelly sitze. Schon seine mexikanische Fahrweise bringt mich immer wieder an den Rand der Übelkeit. Dazu tragen aber auch die unglaublich schlechten Straßen, mit tausenden Schlaglöchern und lästigen Bremsschwellen bei.

Mexikaner haben anscheinend auch die Angewohnheit, zu sagen, dass wir in nur zehn Minuten da sind, letzten Endes dauert es dann aber doch immer über eine Stunde. Auch heute war die Abfahrt zum Flughafen nach Mexiko City für 9:30 Uhr angesetzt. Drei Stunden später fahren wir dann tatsächlich los. Nach fünf Minuten drehen wir wieder um. Abner hat sein Handy vergessen. Während der Fahrt unterhalte ich mich mit Abner über Mitbringsel aus Mexiko. Schwupps halten wir vor einem entsprechenden Laden. Wenig später kann ich glücklich ein paar Taschen mit handgemachten Schälchen ins Auto tragen. Happy shopping für meine Familie und Arbeitskollegen. Vier Stunden später erreichen wir das Flughafenhotel.
Zum Abendessen treffen wir noch Hein und seine Frau. Tragischerweise hat er genau heute seinen Job als Ingenieur verloren. Auch ein Grund, warum ich mich auf Deutschland freue. Bei uns sitzen die Leute zum Glück nicht von heute auf morgen auf der Straße. Jetzt krieche ich aber erstmal in mein Hotelbett, mit einer Wand ohne Risse und bin dankbar, wie sehr ich in die mexikanische Kultur eintauchen durfte."
Tag 11 - Das letzte Dorf
„Unser letzter Einsatztag. Morgen geht es zurück nach Mexiko City an den Flughafen. Ich freue mich, die immer größer werdenden Risse an den Wänden unserer Unterkunft bald hinter mir lassen zu können. Ich bin skeptisch, ob man diesen Wohnblock reparieren kann oder dem Erdboden gleich machen muss. Eine Nacht werden wir es aber noch überleben.
Auch heute bin ich auf ein Neues von unserem Team begeistert. Ohne uns gegenseitig zu kennen, wurden wir in diesen Einsatz geschickt. Unterschiedliche Altersgruppen, Hintergründe, Berufe, Erfahrungen und Lebensweisen. Trotzdem haben wir eine Basis gefunden, um miteinander zu arbeiten. Ich finde es toll, wie gut das funktioniert. Der Aufbau der Gesundheitsstation funktioniert wieder wie am Schnürchen. Heute haben wir die meisten Patienten, im Vergleich zu den letzten Tagen. Trotzdem kommt kein Stress auf. Auch wenn die Patienten neugierig auf ihren Wartestühlen die Arbeit der Ärzte begutachten und dem Dorftratsch verfallen. Auch heute arbeiten wir gleich in der Nähe einer Gesundheitsstation. Nach Absprache mit der lokalen Ärztin übernehmen wir ihre Patienten und sie macht sich auf in die noch entlegeneren, kleinen Dörfer, die für unsere Gesundheitsstation nicht ausreichend Platz gehabt hätten. Eine tolle Win-Win-Situation.

Was bei der Behandlung der Patienten oft auffällt, ist die falsche Dosierung der Medikamente und der fehlende Zugang zu eben diesen. Speziell für Diabetiker. In unserer Einsatzzeit hatten wir mindestens zehn Patienten mit einem Blutdruck von über 400. Eigentlich sollten diese Menschen schon längst im Krankenhaus sein.
Nach sechs Stunden Behandlung hatten wir über 150 Patienten behandelt und packten zusammen. Höhepunkt und außergewöhnlich war heute die Einladung zu einem Abendessen. In den letzten zwei Tagen hatten wir zwei neue, junge Übersetzer dabei. Deren Familie lud uns jetzt zum Maisessen ein. Ein toller Abschluss an unserem Einsatzort, Jojutla.“
Tag 10 - Eine Stadt in Staub
„Jeden Morgen fahren wir von unserer Unterkunft in die zehn Kilometer entfernte Stadt Jojutla. Dort treffen wir in einer Notunterkunft, normalerweise einer Schule, den lokalen Pastor. Von ihm bekommen wir unser Einsatzgebiet zugewiesen. Immer begleitet uns ein Local, der uns den Weg zeigt. Am Ende des Einsatzes bringen wir ihn immer wieder zurück in die Notunterkunft. Auch die letzten Tage sind wir immer wieder durch die Stadt Jojutla gefahren. Schon die Tage davor ist mir der in der Luft hängende Staub aufgefallen, aber heute ist es erschreckend. Das letzte Erdbeben ist nun genau eine Woche vorbei und erst jetzt kommen die wirklichen Ausmaße der Zerstörung ans Tageslicht. In Summe lag die Stadt zwar nicht komplett in Schutt und Asche.
Relativ wenige Häuser waren direkt zusammengefallen. Auffallend waren aber die ganzen gelben Absperrbänder mit der Aufschrift Peligro - Achtung. Viele Häuser waren damit umspannt. Auf vielen Gebäuden stand mit Farbe die gleiche Aufschrift. Trotzdem sah man Menschen, wie sie aus dem Fenster schauten oder durch die Haustüre gingen. Hein hatte mir bei unseren Erkundungen der anderen Dörfer erzählt, auf was man bei den Häusern achten muss. Wir stellten fest, dass nur noch die wenigsten bewohnbar sind bzw. repariert werden können. Jetzt, eine Woche später sind ganze Straßen mit dem gelben Absperrband gesperrt. Bagger und viele Helfer sind angerückt. Ein Haus nach dem anderen wird jetzt dem Erdboden gleich gemacht.

Viele Häuser sind erst in den vergangenen Tagen eingestürzt, die Fassade verschiebt sich, Dächer oder auch ganze Häuserfronten sind eingebrochen. So stelle ich mir eigentlich die verheerenden Ausmaße nach einem Krieg mit Bombenangriff vor. Die Gardinen wehen noch im Wind und man erkennt genau, dass hier bis vor kurzem eine Familie gewohnt hat. Jetzt wird das Haus dem Erdboden gleich gemacht. Der Bagger rückt an und nach ein paar Stunden weiß man nicht mehr, ob das ein Familienhaus, ein Friseursalon, Supermarkt oder eine Apotheke war. Die komplette Existenz dieser Menschen ist mit einem Schlag begraben.
Hinzu kommt die fehlende Möglichkeit für den Wiederaufbau. Es fehlt an Wissen und Geld für die Materialien. Für mich aber fast noch schlimmer ist die Tatsache, dass ganze Stadtviertel aufhören zu existieren. Die Menschen werden regelrecht entwurzelt. Es wird Jahre dauern, bis diese Wunden wieder heilen, wenn sie überhaupt wieder heilen können.“
Tag 9 - Am Ende der Straße
„Hilfe kommt fast immer am schnellsten in den Städten an. Meistens können umliegende Dörfer auch versorgt werden. Schwierig ist es aber für Dörfer, die noch weiter entfernt sind. Heute machen wir uns in ein solches Dorf auf, das mindestens drei Stunden Fahrt entfernt liegt. Sicherlich werden wir dort nicht auf hunderte Patienten treffen, da diese Dörfer recht klein sind. Nichtdestotrotz geht es um jedes Menschenleben und nicht nur um die Anzahl der durchgeführten Behandlungen. Durch den Abzug der lokalen Ärzte in den Gesundheitsstationen vor Ort, wird unsere Hilfe dringend benötigt. Da die Versorgung in solchen Orten oft sehr schlecht ist, darf ich vorher noch meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Essen für das Team einkaufen.

Während unser Hauptkoordinator Heinz Geld tauscht, gehe ich also auf kurze Shoppingtour auf dem lokalen Markt. Ich könnte an solchen Plätzen ganze Tage verbringen. Immer ist etwas los, es duftet nach leckerem Essen und man kommt schnell mit den Leuten ins Gespräch. Heute kaufe ich mal etwas Neues: Gefüllte Maistaschen mit Tunfisch, Hähnchen und Champignons.
Unsere Fahrt zum Einsatzort ist mal wieder spannend. Ohne Allradantrieb geht es über Stock und Stein. Bis ans Ende der Straße. Davor wird uns immer gesagt, dass wir in zehn Minuten da sind. Tatsächlich vergeht aber über eine Stunde, bis wir sprichwörtlich am Ende der Straße ankommen. Sie hört einfach auf und wir stehen vor einem Gatter. So wie auf den Almwiesen bei uns in den Bergen. Durchgeschüttelt wie ein Wackelpudding sind wir quasi am Ende der Welt angekommen.
Wie erwartet, gab es hier nicht hunderte Patienten, aber die, die uns aufsuchten, konnten von unserer Behandlung deutlich profitieren. Viele hatten seit Wochen keinen Arzt mehr gesehen. Die Gesundheitsstation vor Ort ist nur spärlich besetzt. Wir hatten zum Beispiel einen Patienten mit einem komplett vereiterten Gesicht. Hätte eine Behandlung noch später stattgefunden, hätte der Mann wahrscheinlich sein Augenlicht verloren. Aber es gab auch kleine Säuglinge, die einen Gesundheitscheck erhalten haben.
Während unsere Ärzte die Patienten behandeln, habe ich immer etwas Luft. Heute nutzte ich die Zeit mal nicht für Erkundungen des Dorfs, sondern kümmerte mich um meine Arbeit als Medienkoordinatorin und das Schreiben dieses Blogs. Nach fünf Stunden Behandlung ging es dann für drei Stunden holprig zurück und jeder war froh, als er endlich aus dem Auto steigen durfte.“
Tag 8 – Auf eigene Faust
„Immer wenn ich im Ausland bin wird mir bewusst in welchem Luxus ich lebe. Dem Luxus der Freiheit. Und dem Luxus der Sicherheit. Sich auf der Straße frei bewegen zu können, in Strukturen, die frei sind von Korruption im täglichen Leben und einer funktionierenden Infrastruktur für alle Grundbedürfnisse. Auch in Mexiko geht es mir wieder so. Das liegt zum einen an dem Erdbeben, zum anderen aber auch an der alltäglichen Situation hier.
Nach vielen Gesprächen mit den Menschen vor Ort, habe ich einige Informationen sammeln können. Dass Mexiko ziemlich Erdbebenanfällig ist, ist nichts Neues. Aufgrund der Bodenstruktur und der hier aufeinandertreffenden Kontinentalplatten gehören Erdbeben hier zum Leben dazu. Trotzdem fragt man sich, warum selbst in Mexiko City so viel Schaden entstehen kann. Ein Hauptgrund ist, dass viele Häuser so gar nicht hätten gebaut werden dürfen. Schulen sind für das Gewicht der Klassen nicht ausgelegt.
Aber durch Korruption wurden Zulassungen vergeben, die niemals hätten vergeben werden dürfen und Reparaturen vernachlässigt, die man unbedingt hätte durchführen müssen. Die Häuser, die kaputt gegangen sind, entsprachen nicht den Vorgaben. Es ist einfach nur tragisch, dass aufgrund dieser Umstände so viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Zusätzlich bin ich verwundert, dass es in solchen Regionen scheinbar keine Notfallpläne gibt oder sie nicht richtig funktionieren. Vor allem auf dem Land herrscht sehr viel Chaos.

Zum anderen bin ich mal wieder in einem Land, in dem Frauen nicht alleine auf die Straße dürfen bzw. sollten. Wenn ich mich alleine nur fünf Meter von unserer Unterkunft entferne, werde ich zurückgepfiffen. Für mich ein sehr intensiver Einschnitt in meine persönliche Freiheit. Natürlich ist diese Vorsicht nachvollziehbar, wenn täglich Menschen und vor allem junge Frauen einfach so von den Straßen verschwinden. Schon in meinem Auslandssemester in Argentinien war ich mit dieser Situation konfrontiert. Dauerhaft in solchen Ländern zu leben würde mir sehr, sehr schwer fallen.
Auch meinen starken Bewegungsdrang kann ich unter diesen Bedingungen nicht ausleben. Alles spielt sich an unserem jeweiligen Einsatzort oder der Unterkunft ab. Auch zum Abendessen, das manchmal nur 500 Meter entfernt ist, fahren wir mit dem Auto. Auf eigene Faust loszugehen, so wie ich das total gerne zuhause mache, ist hier unmöglich. Ein sehr schlechtes Gefühl. Eingesperrt in einen Käfig, den man nicht direkt sieht. Und die beschriebene Korruption ist hier ein ständiges Thema. Sarkastisch erscheint es in fast jedem Satz. Wenn man Fragen stellt, warum etwas so oder so ist, erhält man häufig als Antwort: Korruption. Da bin ich einfach doch sehr glücklich über die deutsche Bürokratie. Klare Regeln geben Halt und Sicherheit. Das schätzt man erst, wenn man es mal anders erlebt hat.“
Tag 7 – Der Mensch, das Gewohnheitstier
„Die Fähigkeit sich anzupassen ist ein hervorragendes Gen, fest verankert im Menschen. Erst wenige Tage sind seit dem Abflug in München vergangen und schon ist die Aufregung verschwunden. Wir üben uns in unserer Routine und fangen an, uns eine eigene Blase zu bauen. Als Team sind wir eine homogene Gruppe und arbeiten sehr gut zusammen. An das Wetter hat man sich gewöhnt, automatisch greift man zur roten Weste von humedica, Tacos und Tortillas sind nichts Neues mehr und über die täglich größer werdenden Risse in unserer Unterkunft macht man sich immer weniger Gedanken. Fast fühlt man sich schon heimisch. Wenn da nicht meine blonden Haare wären, die einfach zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Routine hilft um den Kopf frei zu bekommen für andere Dinge. Mehr Zeit, um mit den Menschen vor Ort zu sprechen, ihre Geschichte zu hören und in die Kultur vor Ort einzutauchen. In meinen Augen wichtige Faktoren, um sinnvoll vor Ort arbeiten zu können. Heute arbeiten wir wieder mit dem lokalen Pastor zusammen. Wieder bekommen wir einen Local als Wegführer zur Seite gestellt, der uns den Weg in das Dorf zeigt, in dem wir unsere Gesundheitsstation aufbauen werden. Es ging für über zwei Stunden über Stock und Stein. Mulmig war es mir nur ein paar Mal, als wir Dörfer passierten, an denen Dorfbewohner mit Schildern mit der Aufschrift „necestiamos ayuda“ – „Wir brauchen Hilfe“ standen. Wir hatten erfahren, dass genau an diesen Straßenrändern Trucks mit Hilfsgütern gestohlen wurden. Und das erst gestern.

Die Dorfbewohner mit den Schildern in der Hand sind anscheinend nur Attrappen. Die Stellen sind gut gewählt. Hier hat man keinerlei Netz oder WLAN. Also keine Chance jemanden zu informieren, wenn man überfallen wird. Unser einziges Back-Up für solche Situationen sind unsere Satellitentelefone. Heinz und ich haben jeweils Eines. Ich werde es gleich nochmal ausprobieren, wenn wir an unserem Einsatzort angekommen sind.
Angekommen im hintersten Hinterland bauen wir sofort unsere Gesundheitsstation auf. Schön zu sehen, wie routiniert wir in solch kurzer Zeit bereits arbeiten, obwohl wir uns im Team alle völlig fremd sind. Auch heute leisteten wir hauptsächlich basismedizinische Hilfe. Die Gesundheitsstationen in diesem Bundesstaat sind immer mit angehenden Ärzten, die gerade ihr praktisches Jahr leisten, besetzt. Es ist von Vorteil, wenn wir mit den lokalen, meist sehr jungen Ärzten und unserem erfahren humedica-Ärzteteam zusammenarbeiten. Dabei entstehen tolle Synergieeffekte.

Viele der Dorfbewohner brauchen zusätzlich unbedingt psychologische Hilfe. Viele sind von dem Erdbeben verstört und kämpfen mit dem Verlust ihres Hab und Guts. Man sieht, wie schwer es ihnen fällt, in ihren Alltag zurückzukehren. Wie würde es uns wohl gehen, wenn unser Haus auf einmal in sich zusammenfallen würde?
Mit jedem Tag der vergeht, sinkt der Bedarf an akuter Notfallmedizin. Alle direkt durch das Erbeben Verletzten sind langsam versorgt. Jetzt kommen die klassischen Krankheitsbilder nach einem Erdbeben. Dengue Fieber, Cholera etc. Wir hoffen den Menschen vor Ort auch weiterhin gut zur Seite stehen zu können und dort zu helfen, wo unsere Hilfe gebraucht wird.“
Tag 6 - Auf ein Neues
„Früh aufstehen ist so gar nicht mein Ding. Ich bin schon müde, wenn ich nur daran denke, dass ich vor sieben Uhr aufstehen muss. Aber hier in Mexiko ist es anders. Der ganze Körper ist umgepolt. Das Gefühl hier zu sein, weil Menschen dringend Hilfe benötigen und man hier ist um zu helfen, überstrahlt alles. Da tritt der Schlaf in den Hintergrund. Um sechs Uhr bin ich also immer hellwach, obwohl es draußen noch dunkel ist und wir erst um acht Uhr Frühstücken.
Nach unserem etwas chaotischen Start gestern, ist die Erwartung heute natürlich viel höher. Der Wille sinnvoll und möglichst Vielen helfen zu können, ist noch präsenter. Also auf ein Neues! In unseren beiden Autos geht es los in das Verkehrschaos in Jojutla. Ab sofort auch mit Walki Talki. Safe ist Safe. Heute heißt es auch, keine „Uniform“, bitte private Kleidung anziehen. Das humedica-Shirt und die rote Weste sollen wir nur mit ins Auto nehmen aber nicht anziehen. Das Gebiet, in das wir nun fahren soll nicht so sicher sein. LKWs mit Hilfsgütern wurden schon von Ortsansässigen beschlagnahmt. Es ist also besser, wenn man solch vermeintliche Kleinigkeiten wie Kleidung beachtet, um die Gruppe nicht zu gefährden.

Mit den Autos fahren wir immer im Konvoi und achten darauf, dass nicht mehr als 15 Meter zwischen uns sind. Die Walki Talkis helfen, schnell zu kommunizieren, wie etwa zu warten, Pausen anzukündigen oder die Entfernung bis zum Ziel durchzugeben. Eine weitere Regel ist, dass immer die gleichen Leute im Auto sitzen. Diese Aufteilung haben wir auch nach Deutschland durchgegeben, damit im Entführungsfall sofort bekannt ist, wer in dem Auto sitzt. Außerdem parken wir das Auto immer in Fluchtrichtung. Ganz wichtig, wenn wir schnell weg müssen und alles drunter und drüber geht. Notfall- und Evakuierungspläne sind hier das A und O. Es gibt bestimmt gefährlichere Länder, aber Mexiko ist bestimmt ein gutes Land, um diese Regeln zu verinnerlichen.
Heute arbeiten wir mit dem lokalen Pastorennetzwerk zusammen. Unsere Partnerorganisation ist dort super organisiert und kann uns hervorragende Kontakte herstellen. Allgemein spielt Religion in Mexiko eine sehr große Rolle. Durch den flächendeckenden Glauben sind die einzelnen Glaubensgemeinschaften sehr gut vernetzt. Und tatsächlich scheint es, als funktionieren diese lokalen Strukturen besser, wie die der Regierung.
Wir fahren mit unseren Autos zu einer lokalen Schule, die als Notunterkunft und Hilfsgüterlager dient. Dort erhalten wir die Zuweisung zu dem Dorf, in dem wir heute unsere Gesundheitsstation aufbauen sollen. Als wir ankommen, erwartet uns ein Teil der Dorfbewohner schon an ihrem zentralen Treffpunkt. Alle sind super freundlich und hilfsbereit. Nach nur zehn Minuten sind genügend Tische und Stühle da und ruck zuck ist unsere Gesundheitsstation aufgebaut. Jetzt können die Ärzte aus unserem Team direkt mit der Behandlung starten.

Für mich ist das der Startschuss, um wie gestern gemeinsam mit Hein die Lage im Dorf zu überprüfen. Direkt werden wir angesprochen um uns ein Haus anzusehen. Bei 27 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von über 75 Prozent starten wir unseren Aufstieg in dem Bergdorf. Natürlich war es das Haus ganz oben. In unserem zweistündigen Fußmarsch erhielt ich wieder einen spannenden Einblick in das Leben der Menschen vor Ort. Hein half mir aus, wenn mein spanisch nicht mehr ausreichte um mit den Dorfbewohnern zu reden.
Bei den Gesprächen mit den Anwohnern wurde uns erzählt, dass die lokale Gesundheitsstation zerstört ist. Ob diese bereits vor oder erst bei dem Erdbeben zerstört wurde, können wir nicht sagen, aber die Menschen hier sind auf jeden Fall dringend auf unsere Unterstützung angewiesen. Es gibt einen großen Bedarf an basismedizinischer Versorgung, aber auch einige außergewöhnliche Einzelfälle sind präsent.
Ich verbringe die meiste Zeit heute mit Hein, der mir viel über das Leben der Menschen in Mexiko erzählt. Ein Highlight ist das Mittagessen. Bis jetzt haben wir immer von den Frauen vor Ort Essen bekommen. So taucht man richtig in die Welt der Mexikaner ein. Authentischer geht es nicht mehr. Zum Abschluss unseres Tages bekamen wir von den Dorfbewohnern noch einen tosenden Applaus. „Alemania, Alemania.“ Heute war definitiv ein organisierter und sinnvoller Tag und es hat richtig viel Spaß gemacht.“
Tag 5 – Checklistennächte
„Kennt ihr das Gefühl, wenn man eher unruhig schläft? Zum Beispiel, weil man ja nicht den Wecker für den frühen Flug verpassen darf? Oder der Partner, ohne Bescheid zu sagen, immer noch nicht zu Hause ist? Alles Punkte, die ich sehr gut kenne. Ungefähr so, aber noch schlimmer, ist das Schlafen hier in Mexiko. Man möchte ja nicht so tief schlafen, dass man den Alarm für ein Erdbeben überhört. Außerdem will man immer alle wichtigen Dinge im Rucksack neben dem Bett griffbereit haben, legt sich Schuhe und Hose neben das Kopfkissen bereit und geht im Kopf immer wieder den Weg nach draußen durch.
Gestern Abend bin ich also todmüde ins Bett gefallen und war gerade auf dem Weg in den Tiefschlaf, als es an mein Ohr dringt: „Raus, raus, raus, sofort!“ Mist, ich habe den offiziellen Alarm gar nicht gehört. Zum Glück passierte uns nichts, als 120 Kilometer entfernt ein Erdbeben mit der Stärke 5,1 stattfand. Trotzdem geht man extrem aufgewühlt und voller Adrenalin zurück ins Bett. Dass das von den Behörden als sicher eingestufte Hotel überall Risse in den Wänden hat, macht das Sicherheitsgefühl nicht besser.

15 Sekunden hat man nach dem Alarm Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Zehn sind es bei mir, weil ich ihn anscheinend gar nicht höre. Ich glaube, ich schlafe doch lieber gleich in meinen kompletten Klamotten. Schon mal probiert, wie lange man zum Anziehen einer Hose braucht? Definitiv zu lang! Ich brauche sieben Sekunden! Die Rechnung ist einfach: 15-5-7=3. Drei Sekunden um meinen Rucksack zu greifen und nach draußen zu laufen. Das ist knapp. Hoffentlich sind die nächsten Alarme immer negativ, damit ich meine 15 Sekunden noch optimieren kann.
In der nächsten Nacht blieben wir von weiteren Alarmen verschont. Auch wenn man sich nicht traut, tief zu schlafen, ist man am nächsten Tag einigermaßen erholt. Zehn Einsatztage sollte mein Körper also schaffen. Mit welchem Gefühl die Menschen hier wohl leben müssen, ist unbeschreiblich. Die meisten kehren ja in ihre kaputten, kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Häuser zurück, da sie nun mal nur dieses eine Haus haben und nicht wissen, wohin sonst…“
Tag 4 – Ordnung ins Chaos bringen
„Als ich mich 2010 dazu entschieden hatte, Nonprofit-Sozial- und Gesundheitsmanagement und BWL mit dem Schwerpunkt auf Sozial- und Gesundheitsmanagement zu studieren, waren mein Fokus und Ziel sehr klar. Ich wollte unbedingt etwas im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tun. Anderen zu helfen, mit fremden Kulturen zusammen zu arbeiten und einer sinnstiftenden Arbeit mit Wirkung nachzugehen, hatte für mich einen großen Reiz.
Im Laufe meines Studiums stellte ich aber fest, dass auch viele Untaten in diesem Bereich stattfanden und auch immer noch stattfinden. Gelder werden sinnlos verteilt, der Westen versucht den Entwicklungsländern seine Kultur aufzudrücken, es gibt Korruption und nicht hinterfragte Projekte, die manches noch schlimmer machen. Mit der Ökonomin Esther Duflo gab es endlich jemanden, der die Arbeit von den Entwicklungsorganisationen empirisch untersuchte. Für mich ein wichtiger Meilenstein, der es für mich aber auch schwierig macht, in einer Entwicklungsorganisation zu arbeiten. Die meisten dieser Organisationen haben sich selbst noch nie hinterfragt oder sind erst auf dem Weg dahin. Und warum in die Ferne schweifen, wenn es auch vor der eigenen Haustüre gesellschaftliche Herausforderungen gibt?
Trotzdem wollte ich meinen Bezug zur Entwicklungszusammenarbeit nicht verlieren. Einen sinnvollen Hebel sehe ich auch jetzt noch in der unmittelbaren Katastrophenhilfe. Nach einiger Recherche und dem Abklappern von Referenzen entschied ich mich für humedica. Nun bin ich genau mit dieser Organisation nach den schweren Erdbeben in Mexiko unterwegs und kann lernen, wie man am besten helfen kann, wie das System funktioniert, welche Hebel man nutzen kann und welche Auswirkungen die Arbeit von humedica hat.
Heute sind wir auf dem Weg zu unserem ersten Einsatz. Nach Absprache mit den lokalen Behörden wurde uns das Dorf gezeigt, in dem wir unsere Gesundheitsstation aufbauen sollen. Laut der Regierung besteht hier ein großer Bedarf an Hilfe im medizinischen Bereich. Eine Kirche und einige Häuser sollen eingestürzt sein und Menschen unter sich begraben haben. Vor Ort angekommen ist alles sehr chaotisch. Erst war nicht klar, wo wir unsere mobile Klinik aufbauen sollen, dann fehlten die Patienten, weil niemand kommuniziert hatte, dass wir da sind. In der Arbeit vor Ort sieht man erst, wie alle Fäden zusammenlaufen und was man alles braucht und beachten muss. Einen kurzen Moment fühle ich mich wie die tatkräftigen Mexikaner aus der Hauptstadt, die ankommen und nicht weiter wissen mit ihrer Hilfe.

Aber als Gründerin bin ich es gewohnt, mir spontan etwas einfallen zu lassen, um Probleme zu lösen. Zusammen mit dem gelernten Ingenieur Hein, einem ehrenamtlichen Helfer der Partnerorganisation und früheren Leiter der Regierungsabteilung im Kampf gegen Menschenhandel in Mexiko, starte ich eine Offensive. Wir fangen an, durch das Dorf zu laufen und den Menschen zu sagen, dass es medizinische Hilfe mit Medikamenten vor Ort gibt. Während unserer Tour durch das Dorf wird Hein häufig gefragt, ob er die Häuser begutachten kann. Im Gespräch mit den Menschen kommen auch noch ganz andere Bedürfnisse an die Oberfläche und man bekommt das Gefühl, die Kultur, die Lebensweise und die Sichtweise zu verstehen. Etwa eine Stunde später sehen wir, dass immer mehr Menschen zu unserer Gesundheitsstation laufen. Endlich kann unser Ärzteteam helfen!
Ob es sich bei unserer heutigen medizinischen Hilfe nur um Notfallmedizin gehandelt hat, kann ich nicht sagen. Doch es wurde klar, wie wichtig doch unsere Hilfe hier ist. Wir konnten uns heute nicht nur ein gutes Bild von der Zerstörung vor Ort machen und wissen was gebraucht wird, sondern konnten auch zahlreiche Patienten basismedizinisch versorgen.“
Tag 3 – Solidarische Verbundenheit
„Sobald man den Flughafen verlässt, fühlt und sieht man die Hilfsbereitschatt der Menschen. Wir sehen unglaublich viele Mexikaner mit „Silencio“-Schildern in den Händen oder Schildern mit der Aufschrift „Ayudamos al Moreles“ – „Wir helfen dem Bundesstaat Morelos“. Je weiter wir aufs Land kommen und durch die Dörfer fahren, desto mehr sehen wir überall Hilfsgüter, freiwillige Helfer und Notunterkünfte. Auch im Radio wird ständig wiederholt, dass mehr Hilfe auf dem Land benötigt wird. Mexikaner machen sich nun also einfach auf den Weg in die ländliche Gegend, um zu helfen – ohne Plan und Organisation, dafür aber mit viel Tatendrang.

Als wir in unserem Hotel ankommen, erfahren wir, dass das Hotel nur für Hilfskräfte geöffnet ist. In den Konferenzräumen schlafen hunderte junge Menschen auf Matratzen. Sie sind aus der Hauptstadt gekommen und wollen helfen. Vor allem beim Aufräumen des ganzen Schutts, der auf den Straßen und in den Häusern der Menschen liegt. Noch immer gibt es Dörfer, die nicht zugänglich sind, weil die Straßen verschüttet sind. Die Helfer kümmern sich auch um die Verteilung von Kleidung, Essen und Hygieneartikeln.
Der Drive, der hier herrscht, erinnert mich sehr an die Flüchtlingswelle in Deutschland von vor zwei Jahren und es freut mich, zu sehen, welche Solidarität vor allem unter der jungen Bevölkerung herrscht und wie sehr man sich gegenseitig hilft. Es freut mich, in einer Generation zu leben, die nicht nur auf sich bezogen ist, sondern den Blick auch über den eigenen Tellerrand richtet. Ein Bewusstsein für die Bedürfnisse anderer ist für mich eine sehr wertvolle Kompetenz. Toll, dass auch hier in Mexiko diese Ansicht vorhanden ist. Diese Generation an jungen Menschen ist voller Tatendrang, etwas für andere und für das eigene Land zu tun.
Doch trotz neuer technologischer Möglichkeiten in Bezug auf die Kommunikation, ist die Organisation der Helfer hier noch ineffizient und unübersichtlich. Wie gesagt, Menschen aus Mexiko City packen einfach ihre Pick Ups voll und fahren ohne ein konkretes Ziel los. Nur der Stimme im Radio folgend. Vor Ort angekommen finden sie keinen Ansprechpartner und wissen nicht wohin mit ihrem Tatendrang. Auch in unserem Hotel haben sich viele junge Helfer versammelt. Sie schlafen auf dem Boden, sortieren Hilfsgüter und verlassen immer in Grüppchen mit Helmen das Hotel, um in den Dörfern zu helfen. Beeindruckend, was hier für eine Stimmung herrscht. Auch wenn eine Katastrophe immer schrecklich ist, ist es toll, zu sehen, was sie für ein Gemeinschaftsgefühl auslöst. Davon werden die Mexikaner bestimmt noch lange zehren.“
Tag 2 - Die rote Jacke
Die Zeit ist ein faszinierender Faktor. Man kann sie subjektiv und objektiv wahrnehmen oder auch gar nicht. Wer kennt nicht das Gefühl, wenn die Zeit manchmal rennt und manchmal – meistens, wenn man etwas blöd findet – gar nicht vergeht? Bei zwölf Stunden Flug verliert sie sich. Sie verliert sich in Gedanken, Schlaf und Gesprächen. Bis eineinhalb Stunden vor der Landung bin ich noch total in der Vergangenheit. Habe ich etwas vergessen? Habe ich allen Bescheid gegeben? Doch auf einmal, nachdem der Pilot das Wetter und die letzten Informationen zu unserem Flug ankündigte, merke ich, wie mein Kopf umschaltet. Auf einmal fokussieren sich meine Gedanken auf das, was vor uns liegt beziehungsweise liegen könnte.
Ich ziehe meinen kuscheligen Lieblings-Kapuzenpulli aus und legte die rote Weste von humedica an. Schon beim Abflug in München hatte ich die Wirkung dieser Jacke wahrgenommen. Jetzt wird sie mir aber noch bewusster. Auch wenn es nur eine Weste mit Taschen in ziemlich unhippem Outdoorstyle ist - ihre Wirkung ist enorm. Bestimmt spielen die rote Farbe, der an einer Tasche baumelnde Ausweis und die Aufschrift des Logos von humedica eine Rolle. Schon in München bewirkte sie kostenloses Gepäck, die Mitnahme unseres Medizinkoffers Oskar, freundliche Gesichter, intensives Anschauen bei der Platzsuche im Flieger und direkt ein Selfie mit einem Mexikaner, der kurz meinte „I admire you helping my country!“.
Während des Flugs hatte ich die Weste abgelegt, aber zum Aussteigen ziehe ich sie wieder an und wir machen auf den Weg, raus aus dem Flieger in Richtung Gepäckausgabe. Es ist 3:50 Uhr Ortszeit, zurück daheim in Deutschland ist es bereits 10:50 Uhr. Klar, dass das ein langer Tag werden wird.

Ich liebe Blumen, Geschenke und andere kleine Aufmerksamkeiten. Schwer fällt mir aber der Umgang mit der Aufmerksamkeit, die ich für meine Arbeit bekomme oder wie hier, wenn Menschen dich unglaublich freundlich und dankbar begrüßen. Auch an den offiziellen Stellen wollen die Menschen Bilder und unsere Hände schütteln, dabei werfen sie uns unglaublich viele Gracias nach. Weil ich meinte, dass der Drogenhund auf dem Laufband total süß ist, holten sie ihn extra für mich zu uns, damit ich ihn streicheln kann. Raul sein Name. Für mich ein unangenehmes Gefühl. Wir haben ja noch gar nichts getan. Ich erlebe einen Gänsehautmoment, als die Fluggäste der Maschine aus Madrid am Gepäckband stehen. Mit dabei drei Helfer aus Portugal, mit Suchhunden für Verschüttete. Als sie ihr Gepäck vom Band nehmen, bildet sich eine lange Trasse mit Menschen links und rechts, die tosenden Applaus für die Drei geben, als sie Richtung Ausgang gehen.
Trotzdem fühle ich mich noch immer wie in einer Blase. Wir sind an einem Flughafen, der aussieht wie unzählige andere. Nachdem unser Medikoffer Oskar, nochmal genauestens von den lokalen Behörden inspiziert wurde, konnten wir uns auf die Suche nach Heiner und Daniel, unseren beiden noch fehlenden Kollegen machen.
Die Faust der Stille Freitag
Über einen Kilometer stehen auf beiden Straßenseiten Menschen, die Schilder hochhalten und ihre rechte Faust in den Himmel strecken. Es ist 15 Uhr am Freitagnachmittag, als wir mit unseren beiden Autos durch ein Stadtviertel in Mexiko City fahren. Die Faust Richtung Himmel heißt „Silencio“. Augenblicklich verstummt jedes Gespräch, Motoren werden ab- und das Notstromaggregat ausgestellt. Menschen wedeln mit ihren Schildern, auf denen Silencio steht und deuten mit ihren Armbewegungen an, ruhig zu sein. All das passiert, wenn man denkt, ein Lebenszeichen in den Trümmern gehört zu haben.
Dies ist der erste Berührungspunkt mit der Wirklichkeit für uns. Sieben Stunden mussten wir uns die Zeit am Flughafen totschlagen, bis uns die Partnerorganisation abgeholt hat. Wir haben uns mit allem möglichen abgelenkt und so versucht, den Gedanken, dass man gerade unserer Hilfe braucht und wir am Flughafen festsitzen, zu verdrängen.

1985. Der 19. September dieses Jahres ging mit dem verheerendsten Erdbeben in der Geschichte von Mexiko ein. Zehntausende wurden verletzt, eine Viertelmillion Menschen obdachlos. Genau am Jahrestag dieser Katastrophe erschütterte nun erneut ein Beben das Land. Mit einer Stärke von 7,1 und 120 Kilometer von Mexiko City entfernt, traf die Katastrophe den Bundestaat Puebla und forderte die meisten Erdbebenopfer in Mexiko seit 1985.
Und jetzt sitzen wir in unseren beiden Autos auf dem Weg zu einem Einsatzort, der uns vor zehn Stunden noch nicht mal bekannt war. Unser Ziel: Jojutla im Bundesstaat Moreles. Normalerweise liegt er zwei Autostunden von Mexico City entfernt. Jetzt brauchen wir aber über vier Stunden, da sich der Verkehr wegen der kaputten Straßen auf die wenigen noch befahrbaren Wege konzentriert. Die Straßen sind voll mit Autos, die Hilfsgüter bringen, von Familien, die ihren gesamten Hausrat auf Pick Ups gepackt haben, weil sie kein Haus mehr haben. Wir sehen aber auch viel Polizei und auch lokale Organisationen sind unterwegs. Nach Gesprächen mit Locals haben wir erfahren, dass in Mexico City schon sehr viel Hilfe angekommen ist, in den ländlichen Regionen aber so gut wie nicht vorhanden ist. Die umliegenden, kleinen Dörfer sind noch nicht einmal zugänglich, weil die Straßen komplett verschüttet sind.
Doch den Menschen läuft die Zeit davon. Nach 72 Stunden geht die Erwartung jemanden noch lebend aus den Trümmern zu holen Richtung Null. Wir sind jetzt bei Stunde 50. Hoffentlich wird es in den nächsten Stunden noch viele Fäuste der Stille geben.
Tag 1 - Die Stunde der Wahrheit
„Jetzt ist es schon über zwei Jahre her, dass ich meine Ausbildung zur Team- sowie Medienkoordinatorin in Kaufbeuren bei humedica absolviert habe. Seitdem ist viel Wasser die Isar hinunter geflossen. Ich habe nicht nur mein Studium abgeschlossen und bin von München Stadt aufs Land gezogen, sondern habe auch das Start-up Kuchentratsch gegründet.
Und jetzt genau in diesem Moment sitze ich im Flieger nach Mexico City. Vor zwölf Stunden habe ich Bescheid bekommen und gerade beschleunigt die Lufthansamaschine auf der Landebahn. Es geht hoch hinauf in die Wolken, auf die andere Seite von Europa. Und ich mitten drin, gemeinsam mit den anderen Einsatzkräften Wolfgang, Brigitte und Heinz.
Verrückte Welt. Eigentlich stand ich vor zwölf Stunden noch mit meiner Kollegin Theresa vor unserem Pop-Up-Store am Rindermarkt in München. Fleißig haben wir bei Sonnenschein die Flyer zu unserer Crowdfunding-Kampagne für unser neues Weihnachtsbackbuch an Vorbeilaufende verteilt.

Dann der Anruf: Katharina, du bist dabei. Um 19 Uhr geht der Flieger, Erdbeben Stärke 7,1, nähe Mexiko City, humedica entsendet ein Ärzteteam.
Äh okay - na dann, let´s do this. Kurze Katastrophensitzung im Geschäft, Verantwortungen werden verteilt, offene Themen diskutiert und die nächsten Schritte geplant. Ein tolles Gefühl, wenn das eigene Team den Laden so gut im Griff hat, dass man einfach mal für zehn Tage abtauchen kann, um anderen zu helfen. Nachdem der PC heruntergefahren ist, ich meinen Eltern Bescheid gesagt habe - wahrscheinlich haben sie immer noch Schnappatmung - heißt es, raus aufs Land und Tasche packen. Packliste raus und los geht’s: Reisepass, Impfausweis, Klamotten, Schlafsack, Moskitonetz…äh stopp, wie viel Grad hat es eigentlich in Mexiko? Welche Schuhe? Und Moskitospray – hab ich nicht. Vielleicht am Flughafen? Und wo ist meine Stirnlampe? Nach der Liste hab ich jetzt alles, bis auf Stirnlampe, Mückenspray und Isomatte, gefühlt habe ich aber mehr als die Hälfte vergessen.

Reißverschluss zu und schwupp war es Zeit, aufzubrechen. Zum Glück wurde für uns Münchner ein Direktflug gebucht. Statt um 19 Uhr startet unser Flieger erst kurz nach zehn Uhr abends. So habe ich noch die Möglichkeit etwas zu essen, nachdem ich das vor Aufregung den ganzen Tag über vergessen hatte. An dieser Stelle Danke an meinen Fahrer, der mir nicht nur eine Pizza gekauft, sondern mich auch an den Flughafen gefahren hat. Auf dem Weg zum Flughafen kommt die Nervosität zurück. Katastropheneinsatz. Das erste Mal. Ist schon immer ein besonderes Gefühl.
Der Flug ins Ungewisse
Es ist das erste Mal, dass ich nicht für einen Urlaub oder wegen meiner Arbeit in den Flieger steige. Eigentlich liebe ich das Fliegen. Die Möglichkeit abzuheben, alles hinter sich zu lassen und in kürzester Zeit an den außergewöhnlichsten Orten dieser Welt zu sein, fasziniert mich. Doch jetzt habe ich ein mulmiges Gefühl.
Noch nie war ich auf einem Flecken dieser Erde, an dem eine Naturkatastrophe oder Krieg, Tote, Verletzte, viel Kaputtes und so viel Gefühl von Ohnmacht und Trauer hinterlassen hat. Ich freue mich sicherlich auf das, was ich lernen werde, aber ich habe Angst vor dem Erlebten, mit den Erinnerungen und Eindrücken, mit denen ich zurückkommen werde. Aber hey, ich kann mal wieder Spanisch üben. Nach meinem Auslandssemester in Buenos Aires lässt das nämlich ein wenig zu wünschen übrig.
Am Münchner Flughafen nimmt uns die nette Sophie in Empfang. Sie ist diejenige, die immer mit anonymer Nummer anruft und sich als Projektbetreuerin von humedica in den nächsten zehn Tagen um unser Team kümmern wird. Jetzt muss ich meinen Kopf wieder auf Notfall umstellen. Mein Handy immer auf laut haben und es ja auch hören. Ich erinnere mich noch sehr an die Notfallübungen im Training. Wenn man in solchen Situationen sein Handy nicht hört, ist es fatal. Aber darüber zerbreche ich mir im Flieger den Kopf. Jetzt heißt es erstmal, die rote humedica-Weste anziehen und die Rolle als Koordinatorin annehmen.

Dank der Lufthansa durften wir unser Gepäck kostenlos aufgeben. So konnten wir bestimmt über 600 Euro für humedica sparen. Super Sache! Beim Security Check waren sie nicht sofort kooperativ. Aber ganz ehrlich: 15 Kilogramm Medikamente, zehn Scheren und fünf große Spritzen entsprechen auch echt nicht den Vorgaben. Doch da die gesamte Medizin lebensnotwendig sein kann, ist der Medikoffer im Flugzeug neben Wolfgang, einem unserer Ärzte, besser verstaut, als im Tiefkühlfach unter unseren Füßen mit lauter anderen Koffern. Wir haben unseren gelben Medikoffer Oskar genannt. Er darf uns nicht von der Seite weichen und ist jetzt Wolfgangs neuer, bester Freund.
Jetzt heißt es aber schnell auf unsere Sitze, anschnallen, Rückenlehne gerade stellen. Wir sind „ready for take off“. Unsere Lufthansamaschine ist die Letzte, die den Münchner Flughafen verlässt. Jetzt haben wir alle zwölf Stunden Zeit, um eine Mütze voll Schlaf zu bekommen und uns mental auf die sicherlich anstrengenden zehn Tage vorzubereiten. Auch wenn es ungewiss ist, was uns eigentlich erwartet.