Zwei große, braune Augenpaare blicken Manju erwartungsvoll an – hungrig. Schon zum Frühstück gab es nichts. Das Essen, das Manju ihren beiden Kindern gleich servieren wird, wird heute auch ihre einzige Mahlzeit bleiben. Das Abendessen muss ausfallen – schon wieder.
Vor ein paar Tagen konnte Manju mit dem Mann, dem das Lebensmittelgeschäft um die Ecke gehört, noch handeln: Lebensmittel gegen das Versprechen, dass sie die Schulden so bald wie möglich zahlen würde. Doch sie konnte nicht zahlen, obwohl sie es sich fest vorgenommen hatte. Corona hatte sie jeglicher Arbeit beraubt. Morgen würde sie ihren Kindern kein Essen mehr zubereiten können. Der Kredit war aufgebraucht.

Manju und ihre Kinder erlebten einen echten Albtraum während Corona. „Mein Mann hatte uns erst ein Jahr zuvor verlassen“, erzählt die zweifache Mutter. „Ich habe mir danach Arbeit gesucht. Aber es hat einfach nicht gereicht.“ 150 Indische Rupien erhält sie als Tagelöhnerin im Schnitt. Das sind umgerechnet nicht einmal zwei Euro täglich, von denen sie nun ihre Familie ernähren muss. Ihre Lebensmittelkarte, mit der sie von der Regierung Trockennahrung erhält, war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls abgelaufen.
Corona machte weltweit Millionen Menschen auf einmal arbeitslos – und damit auch zu Hungernden. Bereits vor der Pandemie litt jeder Zehnte an chronischem Hunger. Das bedeutet wie bei Manju maximal eine Mahlzeit pro Tag – und das langfristig! 160 Millionen Menschen sind seitdem zusätzlich in die Armut abgerutscht. Zusätzlich belastend für die Familien: Wer arm ist, hat oft nicht genug Geld, um sich Essen zu kaufen.
Endlich keine Angst mehr vor dem Verhungern
„Es gibt keine Worte, um die Situation zu beschreiben“, richtete sich Jeannette Kern, Mitarbeiterin bei humedica India, während der schlimmsten Phase der Pandemie an die Öffentlichkeit. „Die Menschen brauchen ihr tägliches Einkommen. Viele Menschen haben Angst vor Corona. Aber noch mehr Angst haben sie davor, hungern zu müssen, weil sie arbeitslos sind.“ humedica India, die Emmanuel Hospital Association (EHA) und weitere Partner von humedica verteilten deswegen Pakete mit Nahrung an Familien wie die von Manju. Reis, Mehl, Hülsenfrüchte, Öl und Kekse waren darin – genug Essen für insgesamt zwei Wochen.

Manju und ihre Familie erreichte solch ein Lebensmittelpaket in einer schlimmen Zeit – als sie bereits hungern mussten. humedica-Partner EHA half der 25-Jährigen außerdem, eine neue Lebensmittelkarte zu beantragen. So hat Manju jetzt eine große Sorge weniger, eine der existenziellsten, die ein Mensch empfinden kann: Die Angst vor dem Verhungern.
Wenn genug Essen Bildung ermöglicht
Auch Sabir erhielt in dieser Zeit ein Lebensmittelpaket. Der 40-Jährige ist gehbehindert und versucht seine Familie so gut wie möglich durchzubringen. Einige Monate vor der Pandemie nahm er einen Kredit auf und eröffnete damit einen Gemischtwarenladen. Es lief gut und Sabir konnte nicht nur den Kredit mit Zinsen zurückzahlen. Es blieb sogar etwas übrig für das Schulgeld seines Sohnes. Und so freute er sich nicht allein über das Essenspaket. Als er die Lebensmittel in Händen hielt rief er freudestrahlend: „Jetzt werde ich meinen Sohn in die Schule schicken!“

Armut gilt als einer der Hauptgründe für Hunger und setzt einen Kreislauf in Gang, aus man kaum entkommen kann: Wer arm ist, kann sich nichts zu Essen kaufen. Wer hungert, ist zu schwach zum Arbeiten und verdient weniger. Kinder trifft es in dieser Situation doppelt: Sie müssen, mitten in ihrer körperlichen Entwicklung, hungern. Für ihre Schulbildung ist oft ebenfalls kein Geld übrig – ihre Chancen sinken, später einen besser bezahlten Job zu finden. Auf diese Weise wird Hunger „weitervererbt“.

Warum Frauen besonders oft hungern
Neben Kindern hungern auch Frauen besonders häufig. Sie haben in vielen Teilen der Welt seltener Zugang zu Bildung und übernehmen überdurchschnittlich oft unentgeltliche Aufgaben wie die Versorgung von Angehörigen oder Hausarbeit. Dadurch verdienen sie zu wenig, um sich vor Armut und Hunger schützen zu können. Gleichzeitig ist der Nährstoffbedarf von Frauen durch Schwangerschaften und Stillen besonders hoch.
Kern, die bei fast allen Verteilungen von humedica India dabei war, ist ein Fall besonders im Gedächtnis geblieben. „Als wir die Lebensmittelpakete verteilt haben, trafen wir auf eine junge Frau, die gerade erst vor 20 Tagen ein Kind bekommen hatte. Sie war Nomadin und hatte nicht die erforderlichen Unterlagen, um ins Krankenhaus zu gehen. Zu Essen hatte sie auch nichts mehr“, erzählt die humedica India Mitarbeiterin.
Trauer in Hoffnung verwandeln: Perspektiven schenken
Kern hat während der Lebensmittelverteilungen das Leid vieler Menschen gesehen. „Wenn man die Menschen sieht und ihre Geschichten hört, prägt sich das ein. Das hat mich sehr traurig gemacht“, erinnert sie sich. Trotzdem ist sie dankbar: „Es war sehr bewegend zu sehen, wie viele Menschen helfen möchten und uns in Zeiten der Not zur Seite stehen. Wir spüren das, das macht uns Hoffnung.“

Tagelöhner, Nomaden, Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderung: Während der Pandemie mussten vor allem sie hungern. Aber auch Ältere, die niemanden haben, der sich um sie kümmert und Menschen, die bereits in krisengeschüttelten Regionen leben, traf es hart. Auch ohne Corona sind sie weltweit besonders oft von Hunger und Armut bedroht. humedica unterstützt Betroffene nicht nur durch Lebensmittelverteilungen, sondern nachhaltig auch durch gezielte Projekte. So erhalten im Norden Indiens beispielsweise rund 200 Familien Nähmaschinen, Webstühle und Tiere zur Tierzucht. Die Familien haben so abseits vom Tagelohn eine Einkommensquelle, die ihnen eine Zukunftsperspektive schenkt.